Russische Kapelle St. Maria Magdalena
auf der Mathildenhöhe in Darmstadt unter
Berücksichtigung der Arbeiten von Villeroy & Boch

 

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Hochzeitsturm, Ausstellungsgebäude, Russische Kapelle und vorgelagertes Lilienbecken.

Auftraggeber für die zwischen 1897-99 im großherzoglichen Park auf der Mathildenhöhe errichtete russisch-orthodoxe Kapelle war Zar Nikolaus II., Schwager des Großherzogs Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein. Der tief religiöse Zar mochte bei Besuchen in der Heimat der Zarin Alexandra Fjodorowna, gebürtige Prinzessin Alix von Hessen-Darmstadt, nicht auf ein eigenes Gotteshaus mit russisch-orthodoxen Gottesdiensten für seine Familie und seinen Hofstaat verzichten. Er spendete die Mittel zum Bau der Kapelle, die damit Privateigentum der Zarenfamilie war.

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Die Baupläne entwarf Leonty Nikolajewitsch Benois (1856-1929),
Rektor der Petersburger Akademie der Künste.
Benois errichtete 1882-1902 die St. Georgs-Kathedrale in Gus-Khrustalny,1886-1889 die Glinka-Kapelle in St. Petersburg, 1894-1912 die Alexander Newski Kathedrale in Warschau, vor 1896 die Russische Kapelle in Homburg vor der Höhe, 1897-1899 die Russische Kapelle in Darmstadt, 1906-1908 eine Gruft in der Kathedrale St. Peter und Paul in St. Petersburg, 1912 eine Ausstellungshalle für das Museum Alexander III. in St. Petersburg sowie neben Versicherungs- und Bankgebäude zahlreiche Wohnhäuser in St. Petersburg und der Region.

 

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Leonti Nikolajewitsch Benois, Fassadenentwurf der Russischen Kapelle, Mathildenhöhe Darmstadt 1897.
West und Südfassade, Bleistift, Aquarell auf Transparentpapier, aufgezogen auf Karton, 44,7 x 60,3 cm.
© Staatliches Architekturmuseum Moskau

Dem Sankt Petersburger Architekten und Kirchenbaumeister Benois diente der russische Kirchenbaustil de 16. Jahrhunderts als Vorbild für seinen prunkvollen Sakralbau. Die drei vergoldeten Turmhauben sind weit über Darmstadt sichtbar.

Die Grundsteinlegung der russischen Kapelle wurde am 16. Oktober (29. Okt.) 1897 in Anwesenheit von Zar Nikolaus II. und Zarin Alexandra Fjodorowna vollzogen.
Im Darmstädter Tagblatt vom 18. Oktober 1897 wurde die Zeremonie eindrucksvoll beschrieben.

 

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Ansicht der Kapelle von Nordwesten.

Auf kreuzförmigem Grundriss erhebt sich mit Vorhalle, Querhaus und Chor der massive Baukörper. Die Schwere des Baukörpers wird durch die schlanken Türme abgemildert.
Die Kapelle steht auf Erdproben aus allen Teilen des Zarenreiches, die eigens nach Darmstadt transportiert wurden.
Leonti Nikolajewitsch Benois standen als ausführende Architekten bis 1902 Gustav Jacobi und danach Friedrich Ollerich zur Seite.

Ausführende Firmen aus Darmstadt waren u.a. Riedlinger für die Maurer-, Emmel für die Schlosser- und Glückert für die Schreinerarbeiten.
Ornamentale keramische Friese und Bildplatten an Fassade und Zwiebeltürmen wurden von Villeroy & Boch gefertigt.

 

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Mit ihren vergoldeten Zwiebelkuppeln und reich ornamentierten goldenen Dachfriesen ist die Kapelle ein Kleinod russischer Kirchenbaukunst in Deutschland.

Im Giebelfeld über dem Eingangsportal ist die Patronin der Kapelle, St. Maria Magdalena, dargestellt. Das Mosaikbild wurde von dem russischen Maler Viktor Michailowitsch Wasnezow (1848-1926) entworfen und von russischen Mosaikkünstler Vladimir Alexandrovich Frolov (1874-1942) ausgeführt. Unter dem Bogen des Eingangsportals zeigt ein Mosaikbild die heilige Großfürstin Olga begleitet von zwei Engel.

Vladimir Alexandrovich Frolov gehörte zur erblichen Familie russischer Mosaikkünstler. Die Familie Frolov besaß die weltweit größte Sammlung von Smalt (Mosaik), die in der St. Petersburger Kunstakademie aufbewahrt wurde. Zu beachten ist hier, dass Leonti Nikolajewitsch Benois, der Entwerfer der Kapelle in Darmstadt, Rektor der Petersburger Akademie der Künste war.

 

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Viktor Michailowitsch Wasnezow, Entwurf für das Mosaikbild der heiligen Maria Magdalena.
© Russisches Museum Sankt Petersburg

 

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Ornamentale Keramikfriese und keramische Bildplatten von Villeroy & Boch.

Die Fassade ist reich gegliedert. Wuchtige Sandsteinpilaster und Sandsteinbögen kontrastieren mit roten Klinkerflächen. Besonders wirkungsvoll sind glasierte keramische Schmuckfriese, die sich durch die dominante Farbe Türkis auszeichnen. In die Steinmetzarbeit eingefügte quadratische Bildplatten zeigen stilisierte Zarenadler.
Alle ornamentalen keramischen Friese an der Außenfassade und an den Türmen sowie die einzelnen quadratischen Bildplatten wurden von der Firma Villeroy & Boch speziell für die Kapelle angefertigt.

 

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Der stilisierte doppelköpfige Zarenadler ziert sowohl die glasierte Baukeramik als auch den vergoldeten Dachfries.

Die gleiche glasierte Baukeramik mit dem profilierten Zarenadler findet man auch in mehrfacher Ausführung an der russisch-orthodoxen Allerheiligenkirche im Kurpark von Homburg vor der Höhe.

 

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Ansicht der Kapelle von Südosten.

Der zum Bau der Kapelle verwandte Naturstein kam aus verschiedenen Teilen des Zarenreiches.

 

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Die farbige Keramik von Villeroy & Boch harmoniert mit dem Grau des Natursteins, dem Rot des Ziegelmauerwerks und dem Gold der Kuppeln.

 

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Die glasierte Keramik von Villeroy & Boch fügt sich sehr gut in das Gesamtbild von Fassade und Turm ein.

 

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An der Außenwand der Apsis befindet sich ein Mosaikbild nach der Ikone der Gottesmutter von Kursk.

 

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Christus Pantokrator an der Außenwölbung der Apsis.

Typisch ist die Darstellung des Herrn, der den Betrachter gerade anschaut, sowie der Kreuznimbus, die Haltung der rechten Hand, die den Betrachter segnet, und ein aufgeschlagenes Evangelienbuch in der Linken.
Inschriften im oberen Bildfeld: "I-С X-С" (Abkürzung für "Иисус Христос", "Jesus Christus").
Die Inschriften im Buch: "АЗЪ ЕСМЬ СВѢТЪ МИРУ" (übersetzt aus dem kirchlichen Altslawisch in das moderne Russisch bedeuten: "Я есть Свет миру", "Ich bin das Licht der Welt").
Beide Mosaikbilder an der Außenwand der Apsis wurden erst 1903, das heißt vier Jahre nach Weihe der Kapelle, fertiggestellt.

 

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Ansicht der Kapelle von Nordost.

 

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Übergang von Apsis und Querschiff mit vorgelagertem Anbau.

 

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In einem Bogenfeld ist der heilige Zacharias mit der heiligen Elisabeth abgebildet.

Auf dem Bild stehen die Inschriften "Ст Захарий"- ("Святой Захарий") - ("Heiliger Zacharias") und "Стя Елвета" - ("Святая Елизавета") - ("Heilige Elisabeth").
Zacharias und Elisabeth waren die Eltern Johannes des Täufers, dem Vorläufer des Herrn.

 

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An der Nordwand ist die heilige Märtyrerin Alexandra auf sechs keramischen Bildplatten dargestellt.

Auf den Bildplatten findet man die Inschrift "С-тая царица Александра", das ist eine Abkürzung für "Святая царица Александра" (Heilige Kaiserin Alexandra). Sie war die Namenspatronin von Alexandra Fjodorowna, der Frau des russischen Zaren Nikolaus II.

 

 

Details glasierter Keramik von Villeroy & Boch als Fassadenschmuck

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Das Innere der russisch-orthodoxen Kapelle

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Blick auf Ikonostase und Mosaik der Apsis.
(© Kirche Hl. Maria Magdalena Darmstadt)

Beim Betreten des Gottesdienstraumes fällt einem sofort die Ikonostase (Bilderwand) auf.
Der bekannte russische Maler Carl Timoleon von Neff schmückte mit seinen Gemälden die aus dunkler Eiche reich geschnitzte Ikonostase. Auf der Tür findet man Darstellungen der Verkündigung der Jungfrau Maria und die vier Evangelisten. Das Gemälde über der sogenannten “Königstür“ zeigt Jesus mit seinen Jüngern beim Abendmahl.
Während der Liturgie kommt Christus symbolisch durch die “königliche Tür“. Es gibt in der Ikonostase noch zwei weitere Türen, durch die während der Liturgie Altardiener gehen.
Auf der rechten Seite liegt eine Ikone auf einem “Analoj“ (Ikonenpult) zur Verehrung durch die Gläubigen.

Im Rundbogen des Altarraums steht der Text des Lobgesangs der Jungfrau Maria nach Lukas 1:46 “Von ganzem Herzen preise ich den Herrn. Ich freue mich über Gott, meinen Retter“.
Я славлю Господа всем своим сердцем. Я радуюсь Богу, моему Спасителю

Das Mosaik in der Apsis zeigt Maria mit dem Christuskind auf dem Himmelsthron umgeben von Engel und einem Sternenzelt.

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Teil des Lobgesangs der Jungfrau Maria im Rundbogen des Altarraums und Engel im Mosaikfeld.

 

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Mosaik in der Apsis des Altarraums.

Die Mosaikarbeiten in der Apsis und an den Außenwänden, sowie die reichen Ornamente an den Wänden und Rundbögen, wie auch die Kirchenfahne wurden von Viktor Michailowitsch Wasnezow (1848-1926) entworfen. Vladimir Alexandrovich Frolov fertigte die Mosaikbilder nach den Entwürfen von Wasnezow in seiner Werkstatt in Sankt Petersburg und baute sie an und in der Darmstädter Kapelle ein.

 

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Viktor Michailowitsch Wasnezow, Entwurf für das Mosaikbild der Gottesmutter.
© Russisches Museum Sankt Petersburg

 

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Teil des Lobgesangs der Jungfrau Maria im Rundbogen des Altarraums und Engel im Mosaikfeld.

 

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Blick zur mit Mosaik ausgekleideten Kuppel.

 

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Christus am Kreuz mit seinem trauernden Lieblingsjünger Johannes.

Die auf dem Ikonenpult zur Verehrung aufgelegte Ikone der Gottesmutter von Kazan gehörte ursprünglich der Großfürstin Elisabeth, der älteren Schwester der Zarin.

 

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Auf der linken Seite liegt eine Ikone auf einem “Analoj“ (Ikonenpult) zur Verehrung durch die Gläubigen, daneben liturgische Geräte. Der keramische Belag aus Mettlacher Platten wurde in Teilbereichen gegen abtropfendes Kerzenwachs mit Folie abgedeckt.

 

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Die reichen Ornamente an Wänden und Rundbögen wurden von Viktor Michailowitsch Wasnezow entworfen und von Professor Perminov und Kunstmaler Kusik aus Sankt Petersburg in Keimtechnik ausgeführt.

 

 

Mettlacher Platten von Villeroy & Boch in der Kapelle St. Maria Magdalena

Im Vestibül und im Innenraum der Kapelle sind Mettlacher Platten mit erhabener Ornamentzeichnung und Bordüren verlegt. Platten und Bordüre findet man im Musterkatalog von 1880.

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Detail des keramischen Fußbodens im Vestibül.

 

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Einband der Musterblätter von 1880.

 

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Tafel XV.

Das Muster für die Platten findet man rechts unten.

 

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Tafel XIV.

Das Muster für die Bordüre findet man oben links.
Villeroy & Boch ließ sich alle Muster von Platten und Bordüren beim Deutschen Patentamt in München schützen, so die Bordüre als Dessin-Nr. 182, Q: Td 4879.

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Einband der Musterblätter von 1886.

Die im Vestibül und im Gottesdienstraum der Kapelle verlegten Platten und Bordüren findet man auch bei den Musterblättern von 1886.

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Der Preis für einen Quadratmeter Platten mit der Dekornummer 318 wird auf dem Musterblatt von 1886 handschriftlich mit 14 Mark angegeben.

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Der Preis für Platten mit der Dekornummer 182 wird auf dem Musterblatt von 1886 mit 16 Mark angegeben.

 

Würdigung
Die russische Kapelle St. Maria Magdalena auf der Mathildenhöhe in Darmstadt mit ihren vergoldeten Zwiebelkuppeln und reich ornamentierten vergoldeten Dachfirsten ist ein Kleinod russischer Kirchenbaukunst in Deutschland. Sie präsentiert u.a. Mosaikarbeiten an und in der Kapelle, die von bedeutenden Künstlern in Sankt Petersburg gefertigt und in Darmstadt angebracht wurden. Für Keramikliebhaber sind der Fassadenschmuck aus glasierter Keramik von Villeroy & Boch und der Bodenbelag im Sakralraum aus Mettlacher Platten von besonderem Interesse.

 

Weihe der Kapelle und Eigentumslage
Die Weihe der Kapelle erfolgte am 26. Sept. (9. Okt.) 1899 im Beisein von Zar Nikolaus II., Zarin Alexandra und Familie.
Die Kapelle war zunächst als Privatkirche der Zarenfamilie aus deren Vermögen erbaut worden. Durch Verfügung des Zaren vom 14. Febr. 1904 wurde die Kirche dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten mit der Auflage übergeben, dass von der Geistlichkeit in Darmstadt - von Zeit zu Zeit Gottesdienste - zelebriert werden müssen.
Seit 1926 sind Kapelle und Gemeinde Teil der Russisch-Orthodoxen Kirche im Ausland, die russische Emigranten in der weltweiten Diaspora betreut.

 

Die Zarenfamilie als Märtyrer
Im Jahr 1981 wurden von den kommunistischen Machthabern seit der Oktoberrevolution ermordete Glaubenszeugen der Schar russischer Märtyrer und Heiligen zugeordnet.
Zwei der Hll. Märtyrer und Bekenner Russlands sind Prinzessinnen aus dem Hause Darmstadt: die Zarin Märtyrerin Alexandra und ihre ältere Schwester Elisabeth, die mit Großfürst Sergej Alexandrowitsch verheiratet war.
Die Zarenmärtyrer – Zar Nikolaus d. II, die Zarin Alexandra, der Thronfolger Alexij und die Töchter Olga, Tatjana, Maria und Anastasia wurden am 17. Juli 1918 in Jekaterinburg erschossen.
Die Russisch-Orthodoxe Kirche gedenkt jedes Jahr am Tag ihrer Ermordung am 17. Juli der Zarenmärtyrer – zugleich Erbauer der Darmstädter Kapelle.

 

Bildnachweis
Wikipedia 02
Staatliches Architekturmuseum Moskau 03
Russisches Museum Sankt Petersburg 06, 24
Kirche Hl. Maria Magdalena Darmstadt 21
Dr. Johan Kamermans 01, 04, 05, 07-17, 23, 27, 29
Dr. Herbert van den Berge 16, 19, 20, 22, 25, 26, 28, 30
Fotoarchiv Joliet 31-36

 

Literatur
Manfred Knodt, Russische Kapelle St. Maria Magdalena Darmstadt, Verlag Schnell & Steiner, Darmstadt 1989
Günter Fries u.a., Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Kulturdenkmäler in Hessen / Stadt Darmstadt, Braunschweig/Wiesbaden/Vieweg 1994
Margit Euler, Studien zur Baukeramik von Villeroy & Boch 1869 – 1914,
Titelzusatz: Fliesen aus der Mosaikfabrik in Mettlach (1. Teil); Terrakotten aus der Terrakottafabrik in Merzig (2. Teil), Bonn, Univ., Diss., 1993, Seite 168
Magistrat s. Stadt Darmstadt (Hrsg.), Historischer Verein f. Hessen (Hrsg.), Stadtlexikon Darmstadt, 2006
Wissenschaftsstadt Darmstadt (Hrsg.), Die Russische Kapelle in Darmstadt, Deutscher Kunstverlag, München-Berlin 2007
Doris Fath, Die Russische Kapelle, in Darmstadt, München 2007

Arthur Fontaine, Merziger Terrakotta. Weltkarriere und Wiederentdeckung eines historischen Industrieproduktes, 3. bearb. Auflage, Norderstedt 2018
Wikipedia

 

Danksagung
Mein Dank gilt den Herren Kamermans und van den Berge, die mir Fotos für den Bericht zur Verfügung stellten. Meinem Sohn Norbert danke ich für die Bearbeitung und Veröffentlichung des Berichtes.

 

Russische Kapelle St. Maria Magdalena
auf der Mathildenhöhe in Darmstadt
https://darmstadt-church.de/

Öffnungszeiten
Montag ist geschlossen.
Dienstag bis Samstag von 11:00 bis 15:00 Uhr
Sonntag (wegen Gottesdienst) nur von 14:00 bis 16:00 Uhr geöffnet