Erlebnis-Einkauf in einer Fleischerei in Erfurt

 

Freunde historischer Baukeramik kommen beim Besuch der Fleischerei Gaßmann in der Brühler Straße 13 in Erfurt voll auf ihre Kosten. Architekten und Bauherren können bei der Betrachtung dieser über einhundert Jahre alten Verblender- und Fliesenarbeiten feststellen, dass Baukeramik zeitlos schön sein kann und wert ist, vermehrt am Bau eingeplant und von Fachkräften sach- und fachgerecht verarbeitet zu werden.

 

01. Fassade aus Verblendern der Sächsischen Ofen- und Wandplattenwerke AG (S.O.M. AG), Meißen des Hauses Brühler Straße 13 in Erfurt mit aufwendiger Sandstein-Rahmung der Fenster.

 

02. Der Erfurter Fleischermeister Kittel baute das Haus 1904 und ließ die Fassade seines Hauses mit glasierten Verblendern und integrierten Steinmetzarbeiten gestalten.

Um 1850 begann in Deutschland die industrielle Fliesenherstellung. Zuerst waren es Bodenfliesen in zum Teil weltweit anerkannter Qualität. Man denke nur an die Verbreitung der sogenannten „Mettlacher Platten". Die Wandfliesenproduktion setzte erst etwa zehn Jahre später ein. Waren es zuerst noch in Nassaufbereitung hergestellte Steingutfliesen, so wurde ab etwa 1875 in vielen Werken das bei der Herstellung von Bodenfliesen bewährte Trockenpressverfahren auch für die Produktion von Steingutwandfliesen eingesetzt.

Nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 stieg der Bedarf an Wand- und Bodenfliesen rasant an. Die anfangs einfachen Dekore wurden schnell aufwendiger. Es kam die Zeit der Kopien antiker und islamischer Vorlagen. Um 1890 gewannen weiß-blaue „Delfter Motive" bei der Dekoration von Steingutfliesen an Popularität.

Jugendstilfliesen kamen um 1895 in Mode. Waren die Dekore zuerst Flächenmuster, so wagten sich bald namhafte Künstler an Entwürfe für Serien mit Pflanzendarstellungen, geometrischen Formen, Tiermotiven, Personendarstellungen und Landschaftsbildern. Beliebt wurde auch die großzügige Verwendung passender keramischer Bordüren und Profile. Die Zahl keramischer Werke wuchs, die Kapazitäten stiegen und es konnte günstiger produziert werden. Außerdem verschärfte sich der Wettbewerb unter den Fliesenherstellern. Das alles führte zu sinkenden Preisen für Fliesen mit Folgen für die Anwendungsgebiete. Waren keramische Wandbekleidungen und Bodenbeläge bis dahin weitgehend repräsentativen Bauten vorbehalten, hielten sie jetzt auch Einzug in Räume, in denen die Hygiene besonders beachtet werden musste. Das waren zum Beispiel Küchen und Flure in Mietshäusern, vor allem aber Verkaufsräume von Milchgeschäften, Fleischereien und Bäckereien.

 

 

Die Fleischerei in Erfurt ist einen Besuch wert

 

03. Fleischermeister Kittel ließ 1904 sein Ladenlokal durch das Erfurter Fliesenfachgeschäft O. Vollrath aufwendig mit Fliesen der Sächsischen Ofen- und Wandplattenwerke AG (S.O.M. AG), Meißen ausstatten.

 

Allgemein bekannt sind die Fliesenarbeiten von Villeroy & Boch in „Pfunds Molkerei in Dresden, dem schönsten Milchladen der Welt". Ein Schattendasein im Bekanntheitsgrad bei Freunden historischer Fliesen fristet dagegen leider bis jetzt das Ladenlokal der Fleischerei in der Brühler Straße 13 in Erfurt (in unmittelbarer Nähe von Mariendom und Brühler Gärten). Dies müsste sich unbedingt ändern.

 

04. Blick über die Theke zur keramischen Wandbekleidung.

 

In dieser Metzgerei bestechen die keramischen Wandbekleidungen durch ihre klare Gestaltung. Einen hervorragenden Platz nehmen dabei Bordüren und Profile ein, die sowohl gliedernde als auch dekorative Funktionen übernehmen.

5. Die Außenecke wurde mit Stabprofilen ausgestattet. Aufwendig ist auch die Gestaltung der Außenecke der Bordüre. Verwendet wurden Materialien der 1869 gegründeten Sächsischen Ofen-und Wandplattenwerke „SOMAG" aus Meißen.

 

6. Die keramischen Wandbekleidungen sind nach über einhundert Jahren noch in gutem Zustand. Lediglich feine, netzartige Risse sind in der Glasur festzustellen. Dieses Craquelé wirkt sich technisch nicht schädigend und auch die Optik nicht beeinträchtigend aus.

 

 

7. Meisterbriefe und Urkunden an den Wänden zeugen von einer bis in die heutigen Tage fortgesetzten Handwerkstradition. Die in diesem Fleischerladen angebotenen Fleisch- und Wurstwaren sind eindrucksvolle Alternativen zu Angeboten in Supermärkten. Es ist vor allem der Unterschied zwischen frisch aufgeschnittener Wurst beim Fleischermeister und eingeschweißter Wurst im Regal eines Supermarktes. Der Weg zum Fachgeschäft lohnt sich.

 

 

8. Dekorfliesen mit Bordüre in uni farbener Fliesenbekleidung.

 

 

9. ‚Tulpenfliesen‘ und Bordüren mit flaschengrüner Bleiglasur, sind das besondere „Flair" dieses immer noch als Fleischereifachgeschäft betriebenen Ladenlokals.

 

 

 

10. Wanddetail mit beiden Tulpendekoren.

 

 

11. Bordüre mit Tulpenmuster in gliedernder Funktion. Abdeckfliesen mit flaschengrüner Bleiglasur sind als Sockel angesetzt.

 

Das Tulpenmuster wurde von Margarethe von Brauchitsch, geborene von Boltenstern entworfen. Die 1865 in Frankenthal auf Rügen geborene und 1957 in München gestorbene Künstlerin errang mit diesem Motiv 1898 im XII. Wettbewerb der „Deutschen Kunst und Dekoration' eine „Lobende Erwähnung". Insgesamt gingen für diesen Wettbewerb 82 Entwürfe von Fliesenmustern ein. Die SOMAG übernahm die Entwürfe der Künstlerin, die damals in Halle an der Saale wohnte.

 

12. Auch dem keramischen Bodenbelag sieht man die über einhundert Jahre Benutzung nicht an.

 

Bezeichnend für die damalige Wertschätzung der Fliesenfachgeschäfte und deren selbstbewusstes Auftreten sind Werbefliesen sowohl in der Wandbekleidung (Abbildung 5) als auch im Bodenbelag (Abbildung 11).

·        Die Herkunft der Bodenfliesen konnte ich bis jetzt nicht feststellen. Bitte melden Sie sich, wenn Sie den Produzenten kennen.

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts beschränkte sich das Interesse für historische Fliesen weitestgehend auf die vor Mitte des 19. Jahrhunderts handgefertigten und bemalten Fliesen. Doch dann setzte die Sammelleidenschaft für damals noch preiswert zu erwerbende frühindustrielle Fliesen ein. Dabei beschränkten und beschränken sich Publikationen und Sammlungen weitestgehend auf Wandfliesen. Verblender und Bodenfliesen blieben und bleiben leider meist unberücksichtigt.

 

 

Dank sage ich Jan Pluis aus Noordsleen in den Niederlanden, der mir seine Fotos zur Verfügung stellte, Dr. Thomas Rabenau für Angaben zu den Wandfliesen und Roland Kühne vom Stadtarchiv Halle (Saale) für Angaben zur Person der Margarethe von Brauchitsch.

Meinem Sohn Norbert danke ich für die Bearbeitung und Veröffentlichung dieses Berichtes.

 

·        Einen Kurzbericht veröffentlichte ich in der Fachzeitschrift Fliesen und Platten 07.2008.